Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich mir selbst treu geblieben bin. Weil ich nicht anders konnte. Weil es mir schon als Kind widerstrebte, wegzusehen, wenn andere litten – und weil ich früh gespürt habe, dass Gerechtigkeit nicht nur eine Idee ist, sondern ein Lebensgefühl. Ich wollte nie ein Held im Rampenlicht sein. Ich wollte ein Mensch sein, der aufsteht. Der Haltung zeigt. Der nicht mitläuft, nur weil alle es tun.
Wenn du dieses Buch in den Händen hältst, dann vielleicht, weil auch du manchmal spürst, dass etwas nicht stimmt. Dass du anders denkst, anders fühlst oder mutiger fragst als andere. Dieses Buch ist für dich. Es soll Mut machen. Nicht, weil es ein perfektes Leben erzählt – sondern weil es zeigt, dass es sich lohnt, sich nicht zu verbiegen.
Der Wind roch nach Salz und alten Geschichten.
Ich stand am Strand meiner Kindheit, irgendwo an der Ostseeküste von Mecklenburg-Vorpommern. Der Himmel war schwer, das Wasser grau und aufgewühlt, und der Wind zerrte an meiner Jacke, als wolle er mich prüfen. Damals war ich vielleicht zehn Jahre alt. Ein schmaler Junge mit wachen Augen, der versuchte, im Sturm stehen zu bleiben, während andere längst ins Warme gelaufen waren.
Ich liebte diese Stürme. Sie waren ehrlich. Unverfälscht. Unbeeindruckt von dem, was Menschen planten oder wollten. Hier draußen lernte ich früh, dass du dich manchmal einfach hinstellen musst, auch wenn alles gegen dich weht.
Meine Kindheit war im Großen und Ganzen normal – sagt man so. Ich hatte Eltern, ein Zuhause, Freunde. Aber ich spürte früh: Etwas ist anders. Nicht schlechter, nicht besser. Nur... schwerer.
Verantwortung war kein Begriff, den ich damals kannte. Aber ich spürte sie. In den Blicken meiner Eltern, wenn sie müde waren. In den Momenten, in denen ich Entscheidungen treffen musste, die eigentlich für Erwachsene bestimmt waren. Es gab niemanden, der sagte: „Du musst jetzt stark sein.“ Es war einfach so. Und ich war es.
In der Schule fiel das auf. Ab der sechsten Klasse wurde ich mehr als nur ein Schüler. Ich war der, den man fragte, wenn es Streit gab. Der, der bei Gruppenarbeiten nicht nur Aufgaben verteilte, sondern dafür sorgte, dass sie auch erledigt wurden. Der, der nicht wegsah, wenn jemand am Rand stand.
Manche mochten das an mir. Manche fanden es befremdlich. Für viele war ich zu ernst, zu klar, zu unbequem. Kinder wollen spielen, lachen, unbeschwert sein. Ich war oft der Mahner, der Vermittler, derjenige, der schon damals wusste, dass Freiheit nur funktioniert, wenn jemand aufpasst.
Ich erinnere mich an einen Nachmittag, der mich geprägt hat. Ein Junge aus meiner Klasse, kleiner als ich, wurde auf dem Schulhof gemobbt. Ein paar ältere Jungs hatten es sich zur Aufgabe gemacht, ihn fertigzumachen – jeden Tag ein bisschen mehr. Die Lehrer sahen weg. Die meisten Mitschüler auch.
Ich hätte wegsehen können. Es wäre einfacher gewesen. Stattdessen stellte ich mich dazwischen. Ohne große Worte. Ohne zu wissen, ob ich eine Chance hatte. Ich bekam an diesem Tag eine blutige Lippe und einen Eintrag ins Klassenbuch. Aber als ich nach Hause kam und im Spiegel mein Gesicht sah – geschwollen, blau an der Seite –, fühlte ich keinen Schmerz. Nur Stolz.
Verantwortung spürst du nicht in dem Moment, wo du sie übernimmst. Du spürst sie danach – wenn du allein bist und weißt: Ich habe das Richtige getan.
Neben der Schule fand ich im Kampfsport einen Ausgleich. Kein Verein, keine Medaillen. Straße. Körper. Reflexe. Es ging nicht darum, besser zu sein als andere. Es ging darum, zu bestehen, wenn es darauf ankommt. Stärke aufbauen – nicht um andere zu beherrschen, sondern um sich selbst nicht unterwerfen zu lassen.
Ich habe früh gelernt: Wenn du nicht stehen bleibst, wenn der Wind stärker bläst, wirst du weggeweht. Nicht nur draußen am Meer. Sondern auch im Leben.
Und ich wollte stehen bleiben. Immer.
Nach der Schule schien die Richtung klar: Ich wollte mit Menschen arbeiten. Pädagogik war naheliegend. Ich konnte zuhören, ich konnte Verantwortung übernehmen, ich wusste, wie es ist, wenn man jemanden braucht, der sich kümmert.
Ich begann meine Ausbildung. Theorie, Praxis, Gespräche über Entwicklung, Gruppenprozesse, Bindungstheorien. Es interessierte mich – wirklich. Aber irgendetwas fehlte. Es war, als würde ich in einem Raum sitzen, der mir zu sauber war. Zu steril. Zu geordnet für die Wirklichkeit, die ich kannte.
Gleichzeitig zog mich etwas anderes an: das Bewachungsgewerbe. Es war roh, direkt, ungefiltert. Es hatte nichts mit Konzepten oder Förderplänen zu tun, sondern mit Realität. Menschen in Extremsituationen, klare Grenzen, schnelles Handeln. Türstehen. Nachtarbeit. Konfrontation. Präsenz.
Ich lebte in zwei Welten: pädagogische Ausbildung unter der Woche, Türsteher am Wochenende. Tagsüber sprach ich über Empathie – nachts trainierte ich sie praktisch im Gedränge vor Clubtüren, wo Worte oft weniger wogen als Blickkontakt und Haltung. Es war wie ein Parallelleben. Zwei Systeme, zwei Kulturen. Aber ich erkannte: In beiden ging es um Menschen. Um Vertrauen. Um Führung. Um Klarheit.
Natürlich war das Nachtleben auch gefährlich. Es gab Situationen, die hätten kippen können. Ich sah Gewalt, Abgründe, Verzweiflung. Ich sah Menschen, die eine Grenze suchten – und andere, die sie genussvoll überschritten. Es wäre leicht gewesen, in den Sog zu geraten. Ich wurde eingeladen, Teil von Dingen zu werden, die mit meinem Gewissen nicht vereinbar waren.
Aber mein innerer Kompass schlug immer dann am stärksten aus, wenn andere ihn gerade abschalteten. Ich wusste: Wenn ich das tue, verliere ich nicht nur meinen Job. Ich verliere mich. Also hielt ich mich raus. Ich blieb klar. Vielleicht wurde ich gerade deshalb respektiert.
Ich erinnere mich an eine Nacht, in der ein junger Mann völlig außer Kontrolle geriet. Alkohol, Frust, aufgestaute Wut. Er provozierte, beleidigte, schlug. Ich hätte ihn zu Boden bringen können – rein technisch. Stattdessen sprach ich ruhig mit ihm. Drei Minuten. Kein Griff, keine Gewalt. Nur Worte. Am Ende lehnte er sich an die Wand und sagte: „Danke, dass du mich nicht wie Dreck behandelt hast.“
Das war einer dieser Momente, in denen ich begriff, wie viel Pädagogik in der Straße steckt. Und wie viel Klarheit man manchmal braucht, um überhaupt menschlich bleiben zu können.
Als die Ausbildung vorbei war, traf ich eine Entscheidung: Ich wollte mehr von dieser Welt verstehen. Ich wollte im Bewachungsgewerbe nicht nur stehen, sondern führen. Lernen. Aufbauen. Also ging ich ganz hinein.
Ich wusste: Ich bin anders als viele hier. Und genau deshalb gehöre ich hin.
Und dann kam die Liebe. Und mit ihr ein Kind. Ich wurde Vater – und alles veränderte sich. Plötzlich ging es nicht mehr um persönliche Entwicklung oder berufliche Freiheit. Es ging um Familie. Um Sicherheit. Um Stabilität.
Die Verantwortung, für einen Menschen zu sorgen und ihn zu schützen, ist mit nichts anderem vergleichbar. Es verändert dich – nicht nur im Alltag, sondern im Innersten. Du denkst plötzlich nicht mehr in Zielen oder Erfolgen, sondern in Zukunft. In Vertrauen. In Geborgenheit.
Mein selbstständiger Lebensstil war mit dem neuen Familienalltag nicht vereinbar. Ich musste eine Entscheidung treffen, die mir schwerfiel: Ich ließ mich anstellen – in einem großen Sicherheitsunternehmen. Feste Strukturen, feste Uniform, klare Befehlsketten. Für jemanden wie mich ein harter Schritt. Aber einer, der notwendig war.
Ich war nicht mehr mein eigener Herr, ich verkaufte mein Können im Namen einer Firma. Doch ich tat es bewusst – für meine Familie. Für Verantwortung. Zum Glück war es ein Unternehmen mit gutem Ruf. Und ich durfte am Wochenende weiterhin als Türsteher arbeiten – mein Stück Freiheit, mein Ventil, mein Raum, um ich selbst zu bleiben.
Zwischen Konzernalltag und Kieztür lernte ich, dass Verantwortung auch dann stark ist, wenn sie sich unbequem anfühlt. Ich wuchs – nicht trotz, sondern durch diesen Spagat.
Mit der Zeit stabilisierte sich mein Leben. Die Familie wuchs, meine Rolle wurde klarer – doch innerlich blieb der Drang, etwas zu verändern. Also wechselte ich intern in den Ausbildungsbereich der Firma. Endlich konnte ich Wissen weitergeben. Haltung. Erfahrung. Und: Ich konnte etwas gestalten.
Ich krempelte einiges um. Ich stellte Fragen, wo vorher Antworten galten. Ich motivierte Menschen, statt sie nur zu verwalten. Rückblickend sage ich: Ich habe Spuren hinterlassen. Und ich glaube, das Loch, das mein Weggang hinterließ, war spürbar.
Doch auch hier: Grenzen. Als es um Geld ging – um Anerkennung für Leistung – bekam ich das Gefühl, dass mein Beitrag nicht wertgeschätzt wurde. Also ging ich. Zurück in die Pädagogik. Wieder mit Jugendlichen, mit Systemen, mit Verantwortung.
Aber ich merkte: Ich halte das nicht aus. Ich brauche mehr Dynamik, mehr Gestaltung, mehr Spielraum. Ich musste wieder weiter.
Dann kam der Schritt in den Staatsdienst: Ich wurde Polizist. Ich bestand die Prüfungen, wurde eingestellt, übernahm verantwortungsvolle Aufgaben – sogar mit Waffe. Ich war stolz. Meine Familie war stolz. Mein Umfeld sowieso. Ich gab mein Türstehertum auf. Ich war angekommen. Zumindest dachte ich das.
Doch für mich begann damit ein tiefer innerer Konflikt.
Die Polizei ist für mich das Spiegelbild der Gesellschaft. Eine Institution, die Vertrauen braucht – und Verantwortung trägt. Sie sollte schützen, bewahren, Frieden ermöglichen. Doch in dieser Zeit wurde sie – so empfand ich es – zunehmend zu einem politischen Instrument gemacht. Anstatt selbst zu reflektieren, übernahm sie nur noch die Durchsetzung. Sie wurde zum Werkzeug statt zum Spiegel.
Ich hätte es ausgehalten, wenn einzelne Entscheidungen falsch gewesen wären – das passiert. Aber ich konnte nicht zusehen, wie Menschen ihrer Freiheit, ihrer Integrität und ihrer Liebe zum Land beraubt wurden. Ich konnte nicht zusehen, wie das Grundvertrauen in den Staat durch Maßnahmen zerstört wurde, die weder transparent noch nachvollziehbar waren.
Ich glaube, Gerechtigkeit ist nicht nur ein Wort für mich. Sie ist ein innerer Taktgeber. Wenn sie fehlt, fühle ich das körperlich – wie eine Unruhe, ein Druck auf der Brust. Und in dieser Zeit der Pandemie – mit all den widersprüchlichen Regeln, dem Schweigen auf echte Fragen – war dieser Druck kaum auszuhalten. Ich habe gespürt, wie tief es in mich hineinschneidet, wenn ich Ungerechtigkeit einfach geschehen lasse. Ich konnte nicht. Ich musste etwas sagen. Selbst wenn es mich alles kosten würde.
Ich stellte Fragen. Ich äußerte Bedenken. Ich forderte Haltung. Mein Arbeitgeber forderte das Gegenteil: Gehorsam. Schweigen. Und vor allem: Loyalität.
Doch für mich gibt es nur eine echte Loyalität: die Loyalität zur Gesellschaft, in der man lebt – mit dem Bedürfnis nach Frieden, Gerechtigkeit und Lebensfreude. Jede andere Form von Loyalität ist immer mit schwerwiegenden Folgen belastet. Das war und ist mein Maßstab.
Ich sprach weiter. Und wurde aussortiert. Aber ich habe mir selbst nicht den Rücken zugekehrt.
Würde ich es wieder tun? Ja.
Ich stand vor dem Nichts – beruflich. Innerlich war ich aufgewühlt, aber nicht gebrochen. Und dann kam – fast unerwartet – eine neue Chance: IT.
Ein Feld, das mir bis dahin fremd war – abstrakt, technisch, wenig greifbar. Und doch war genau das der Reiz. Ich stürzte mich hinein, begann bei null, tastete mich vor. Anfangs fühlte ich mich wie ein Fremder in einem fremden Land: neue Begriffe, neue Systeme, neue Denkweisen. Aber ich ließ mich nicht abschrecken. Ich lernte, fragte, probierte, fiel – und stand wieder auf. Schritt für Schritt erschloss ich mir diese neue Welt. Und irgendwann merkte ich: Ich wachse. Nicht nur in der IT – sondern als Mensch. Ich gewann neue Perspektiven, neue Fähigkeiten, neue Sicherheit. Ich baute etwas Neues auf. Wieder. Und diesmal auf einem Fundament, das aus allem bestand, was ich vorher erlebt hatte.
Und heute? Heute bin ich dankbar. Für die Brüche, die mich geformt haben. Für die Neuanfänge, die mir gezeigt haben, dass Veränderung nicht das Ende bedeutet, sondern eine Einladung zu wachsen. Für die Momente des Zweifelns, des Haderns, des Wiederaufstehens. Ich bin dankbar für die Widersprüche, aus denen ich gelernt habe, und für die Klarheit, die in mir gewachsen ist. Und vor allem bin ich dankbar für das, was geblieben ist – auch wenn alles andere sich verändert hat: Ich selbst. Mit all meinen Narben, meinen Fragen, meinem Mut. Ich bin nicht mehr der, der ich einmal war – aber ich bin der, der ich geworden bin. Und das zählt.
Während ich mich beruflich neu aufstellte und in der IT-Welt Fuß fasste, bewegte sich um mich herum eine Gesellschaft im Ausnahmezustand. Die Pandemie hatte nicht nur das öffentliche Leben, sondern auch das politische Klima verändert. Was einst selbstverständlich war – Meinungsvielfalt, Kritik, offene Diskussion – wurde plötzlich als Bedrohung wahrgenommen.
Für mich war schnell klar: Ich kann das nicht stillschweigend hinnehmen. Ich muss auf die Straße. Nicht, weil ich gegen etwas war – sondern weil ich für etwas bin: für Freiheit, für das Recht auf Fragen, für eine Gesellschaft, die Debatte aushält.
Die ersten Demos waren emotional. Als Mensch, als Vater, als jemand mit Haltung war ich hin- und hergerissen. Einerseits war da das Bedürfnis, etwas zu bewegen – andererseits das mulmige Gefühl, kriminalisiert zu werden. Wir wurden nicht gehört. Stattdessen wurden wir eingestuft. Verdächtigt. In Frage gestellt.
Ich erinnere mich gut an das Gefühl, zwischen zwei Lagern zu stehen. Auf der einen Seite jene, die die Politik verteidigten – aus Angst, aus Überzeugung oder einfach, weil es bequemer war. Auf der anderen Seite die, die wie ich kritisch waren, hinterfragten, auf Missstände aufmerksam machten. Manche dieser Menschen wurden zu Weggefährten. Manche standen nur kurz an meiner Seite. Der große Hebel, der alles bewegt, blieb aus. Vielleicht, weil die Menschen längst zu sehr eingeschüchtert waren.
Während ich tagsüber in der IT-Ausbildung zwischen Code, Ticketsystemen und virtuellen Meetings pendelte, lebte ich innerlich in einer ganz anderen Realität. Es war ein Doppelleben – technischer Fortschritt auf der einen Seite, gesellschaftlicher Rückschritt auf der anderen. In der IT sprach kaum jemand über das, was draußen passierte. Viele zogen sich zurück in digitale Filterblasen. Ich tat das Gegenteil: Ich stellte mich hin. Ich zeigte Gesicht.
Diese Zeit hat mir viel abverlangt – aber sie hat mich auch gestärkt. Ich habe gelernt, dass Mut kein großes Wort ist, sondern eine tägliche Entscheidung. Dass Gesellschaft nicht von allein lebendig bleibt. Und dass es nicht reicht, leise innerlich zu zweifeln – man muss laut werden. Auch wenn es kostet.
Mein Weg war nicht gerade. Aber er war echt. Und er war meiner.
Ich wollte immer ein Held sein. Kein Perfekter – aber ein Aufrechter. Einer, der nicht wegsieht. Der nicht schweigt. Der nicht mitmacht, nur weil es alle tun.
Wenn du bis hierher gelesen hast, dann hast du vielleicht gespürt, was ich meine. Und wenn du dich irgendwann fragst, ob es sich lohnt, unbequem zu sein, Haltung zu zeigen, mutig zu bleiben – dann sage ich dir: Ja. Es lohnt sich.
Immer wieder ja.